Rehduziert
Die Fahrt begannen wir schweigend. Edi starrte auf die Strasse. «Geht’s dir nicht gut?», hatte er mich gefragt, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass aus seinem Auto Geweihe kämen. «Ein Rehnault meinst du?» Ich war nicht verwundert, dass er so reagierte. Was hatte ich erwartet? Natürlich musste er glauben, ich sei durchgedreht. Ich war mir ja selbst nicht sicher, ob das nicht stimmte.
Nach ein paar Kilometern fragte er mich dann, ob irgendetwas passiert sei; ob mich etwas erschüttert hätte. Klar, die letzten Monate waren stressig gewesen und die Arbeit hatte viel von mir abverlangt. Aber das konnte nicht der Grund sein. Ich erzählte ihm vom Besuch im Garten. Er kannte meinen Vater. Auch schon von Kindesbeinen an. Die beiden verstanden sich recht gut. Dass mein Vater hin und wieder zu ein wenig abstrusen Aktionen neigte, war für ihn nicht verwunderlich. «Und er hat dir gesagt, es gäbe den Imperrehtor?» Ich nickte. «Der die Welt beherrsche?» Ich blickte ihn an, hob leicht die Mundwinkel. Nun ja, ja, das hatte er gesagt. Ich nickte wieder. Edi richtete den Blick auf die Strasse. «Ich würde sagen, du musst dich noch einmal mit ihm treffen.»
Irgendwie hatte ich erwartet, er würde sagen, dass ich diesen Blödsinn schnellstmöglich vergessen solle, vielleicht, dass man einen psychologischen Dienst für meinen Vater in Betracht ziehen solle. Aber Edi war schon immer derjenige gewesen, der lieber einen Schritt auf den anderen zumachte, als sich von ihm abzuwenden. Das war auch der Grund gewesen, warum er meine Schwester kennengelernt hatte. Wir hatten gespielt, irgendwo im Wald, wie immer in diesen Tagen. Es muss schon ein paar Jahre nach der Geschichte mit dem Lager im Wald gewesen sein. Wir waren keine Kinder mehr gewesen, schon eher Jugendliche. Fussball war ja nie unser Sport gewesen, aber um damals irgendetwas zu gelten, war es für Burschen beinahe unumgänglich, mit dem Ball zumindest ein paar Meter laufen zu können, ohne auf die Nase zu fallen. Und so hatten wir gespielt. Ich bin im Tor gestanden und Edi hat versucht, aus vielen möglichen und unmöglichen Positionen zu treffen. Irgendwann sind dann die anderen gekommen. Sie waren ein paar Jahre älter, spielten besser Fussball, tranken Bier. Wenn ich heute darüber nachdenke, sehe ich die Situation wie im Dschungel, wenn zwei Tiere aufeinander zukommen. Dabei ist die Tierart relativ egal. Ob Reptil oder Primat spielt in der Kontaktaufnahme keine Rolle. Am Anfang ist es immer ein Abtasten, ein Spähen. Die Chefs der Gruppe vorneweg, gleich dahinter der Anhang und die Gamma-Tiere in kleinem Abstand dahinter, meist mit gerümpfter Nase. In einem Clint Eastwood Film wäre das ganze noch mit spannungsgeladener Instrumentalmusik unterlegt. Tiere würden dann die Zähne zeigen oder sich auf die Brust klopfen. Bei Menschen wird geprahlt: Kunststücke mit dem Ball, mit dem Skateboard, ein paar lässige Gesten.
Zum Kampf ist es eigentlich relativ selten gekommen. An jenem Tag haben wir nur ein paar kurze Wortbrocken ausgetauscht. Edi hatte gerade zuvor 5 Schüsse versenkt und war ein bisschen adrenalingeladen. «Was geht?» Der Ton war ein bisschen zu scharf für die Situation gewesen. «Was heisst «Was geht?»» «Bist du schwerhörig?» An dieser Stelle wärs fast eskaliert. «Ich zeige dir gleich wer hier schwerhörig…» «Beruhige dich, ist doch alles gut.» Plötzlich war Elisa hinter dem bulligen Anführer der Gegentruppe hervorgetreten. Ich hatte gewusst, dass sie sich an jenem Nachmittag mit irgendjemandem hatte treffen wollen, aber dass es DIE Typen waren, hatte ich nicht gewusst. Ich musste schlucken. Bei den Krokodilen oder Affen wären an dieser Stelle bestimmt die Fetzen geflogen. Bei uns wars nur ein verbaler Schlagabtausch. «Oh Hallo, wem gehört denn diese ungewohnt sanfte Stimme unter den rauschenden Eichen?» «Das ist… meine Schwester.» «Deine was?» Das Gesicht des anderen Typen war erstarrt. Die Explosion war an dieser Stelle schon fast hörbar. Und dann hat Edi das gemacht, was er immer gemacht hat. «Ich bitte um Entschuldigung, ich wusste ja nicht, dass ihr quasi Familie seid. Edi mein Name, und das ist Manuel. Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen ein bisschen spielen und uns kennenlernen?» Wenn ich das gesagt hätte, hätte mir der Hulk-Verschnitt wahrscheinlich seine Faust genauer vorgestellt, aber Edi verwandelte damit die rauschenden Eichen in schnurrende Katzen. Wir hatten einen schönen Nachmittag. Und die Geschichte mit Elisa und Edi nahm dann ihren Lauf.
«Du meinst, es ist besser, nochmal mit ihm zu reden? Glaubst du es war ein… Missverständnis?» Edi schwieg. «Nun ja, was hat er dir denn genau gesagt?» Und dann erzählte ich es ihm. Daserste Treffen mit dem Imperrehtor, der Zwiespalt meines Vaters, die Rehvolution. Natürlich konnte ich nicht ins Detail gehen, das Gespräch mit meinem Vater hatte lange gedauert. Ich konzentrierte mich auf die wichtigen Punkte, versuchte es aufs Wesentliche zu rehduzieren.