Am Anfang bin ich noch ziellos durch die Stadt gefahren. Ordne deine Gedanken, habe ich zu mir gesagt. Zu viel war passiert. Zu schnell war es gegangen. Und seit ich an Elisa gedacht hatte, lag auf all meinen Überlegungen ein zarter Schleier von Ärger, Wut und Unverständnis. Seine Abwesenheiten. Und die Rehe. Diese Unachtsamkeit. Und dann die Folgen. Ich musste mich zwingen, meine Augen auf die Strasse zu richten. Konzentriert zu bleiben. Er hatte mir alles erzählt. Erst jetzt, als ich im Auto sass und das Fahrzeug langsam aus der Stadt manövrierte, realisierte ich, was das alles eigentlich zu bedeuten hatte. Dass die Dinge stimmen könnten – stimmen mussten; dass sie die einzige Erklärung für all das waren, was passiert war.
Ich parkte am Strassenrand und setzte mich auf den Stein, der neben dem Hinterrad breit und schwer am Kiesboden lag. Das leise Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Grillen beruhigte mich kurz. Geistesabwesend verfolgte ich einen Käfer, der seinen Weg über einen kleinen Ast suchte und danach im Gras verschwand. Gras. Sie hätten Gras geraucht, nachdem sie den Imperrehtor verlassen hätten, hatte er gesagt. Mussten erstmal runterkommen. Für ihn wäre es auch der totale Schock gewesen. Am Anfang. «Ich hatte doch Familie. Ich hatte Margot ich…», er hatte mich mit seinen rehbraunen Augen angeblickt, «ich hatte euch!» Und am nächsten Tag sei doch eine unserer Wanderungen angesetzt gewesen. Aber der Imperrehtor hätte klargemacht, dass er ihn jetzt brauche. Ihn, Robert und all die anderen. Um der Menschheit die Augen zu öffnen. Und das sei doch ein hehres Ziel gewesen. Und deswegen hätten die beiden lange diskutiert. Robert habe sich zuerst entschuldigt, ihn mitgenommen zu haben. Aber das Reh hätte es ihm befohlen. Und trotzdem liege die Entscheidung jetzt bei ihm, habe Robert gesagt. «Weisst du, ich habe es mir dann nicht leicht gemacht. Ich habe überlegt, abgewogen – aber es musste schnell gehen. Und das bei einem Entschluss, der… ja, der schlussendlich über unser weiteres Leben entschieden hatte!» Und den du bekifft mit einem Freund auf der Parkbank getroffen hast, hatte ich mir gedacht. Aber ich war zu perplex gewesen, um irgendwas zu sagen. Ich hatte ihn nur angesehen. Er war meinem Blick nicht ausgewichen. Hatte nur geseufzt. Und dann weitergeredet. «Es war auch eine andere Zeit damals, weisst du. Ich kann dich verstehen, wenn du das heute nicht nachvollziehen kannst. Die Sicherheiten, all die Dinge, die verfügbar sind, all die Sachen, die man weiss – das gab es damals nicht. Alles was wir hatten, waren unsere Träume. Und die wollten wir leben. Und zwar nicht nur wegen uns! Wir wollten sie leben, damit wir euch einmal eine bessere Welt hinterlassen können. Und was der Imperrehtor gesagt hat, hat mich überzeugt. Er hat in nur wenigen Minuten das geschafft, wozu eine ganze Generation nicht in der Lage gewesen war: Mir das Gefühl zu geben, dabei sein zu können. Gebraucht zu sein, verstehst du?» Er war so in Fahrt gekommen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, dass ich ihn die letzten Sekunden entgeistert angeblickt hatte.
Er stockte.
«Wir hätten dich gebraucht.», sagte ich leise.
Er nahm meine Hand. Eigentlich hatte ich sie wegziehen wollen, aber irgendetwas hatte mich gehindert. Vielleicht war es die einfache Berührung gewesen. Diese unmittelbare Nähe, nach der ich mich schon so lange gesehnt hatte. «Sich für einen Weg zu entscheiden heisst immer, einen anderen nicht zu gehen.» Immer noch hatte er meine Hand gehalten. «Ich habe mich damals dazu entschieden, für das grosse Ganze zu kämpfen. In der Hoffnung, dass es die Welt nicht nur für euch, sondern für alle besser macht. Und auch wenn du es noch nicht glaubst oder wahrhaben willst: Wir haben es geschafft. Du wirst in den nächsten Wochen und Monaten viele Dinge sehen, die du bis jetzt nicht wahrgenommen hast. Von denen du geglaubt hast, sie seien anders entstanden. In Wirklichkeit» – und ich kann mich noch gut erinnern, dass er an dieser Stelle ein lange, dramatische Pause gemacht hatte – «, in Wirklichkeit haben wir die Drähte in der Hand. Wir haben etwas gestartet, das die Welt grundlegend verändert hat. Ich habe dir gesagt, dass es damals eine andere Zeit gewesen ist.» – sein Blick war scharf und stechend geworden – «Es war eine ganz besondere Zeit. Es war die Zeit der Rehvolution.