Der Rehferee
Es war kurz nach dem Anpfiff gewesen. Zuerst hatte ich einfach die Augen fest zugekniffen. Aber es war dabei geblieben. Da rannte ein Reh mit einer Pfeife im Mund durchs Stadion!
Mein Blick zu Edi hatte kein Licht ins Dunkel gebracht. Er war dagesessen wie immer, hatte an seinem Snickers gekaut. Irgendetwas war komplett falsch mit mir, seit ich bei ihm im Garten gewesen war. Ich habe mich ja anfangs damit zu beruhigen versucht, dass ich wohl einfach ein bisschen durch den Wind war. Nach all dem, was er mir aufgetischt hatte. Waren ja auch keine kleinen Brocken gewesen. Aber dieser Rehferee ging einfach nicht mehr weg. Ich liess ihn einmal 10 Minuten laufen. Er pfiff gar nicht schlecht. Die eine gelbe Karte hätte ich jetzt nicht unbedingt gegeben. Aber vielleicht auch nur, weil sie gegen den FC war. Nach einer gewissen Zeit hatte ich mich dann sogar ein bisschen an ihn gewöhnt. Vielleicht war ja doch was dran an dieser ganzen Sache. Es würde zumindest einiges erklären. Er hatte gesagt, dass ich Dinge sehen würde, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen hätte. Aber dass er damit wirklich meine SINNE gemeint hatte, hätte ich nicht gedacht. Wie hatte er das angestellt? Hatte er mir etwas eingeflösst?
Ich blickte aufs Spielfeld. Wir lagen 0:1 hinten. Dabei spielten wir gar nicht schlecht. Ein dummer Fehler hinten – der Tormann war falsch herausgelaufen – und aus einem eigentlich harmlosen Konter war dann ein Tor geworden. So ging es oft.
Aber war es ein Rückschlag, jetzt die Dinge neu zu sehen? Wenn es nur Halluzinationen waren, würden sie ja wieder weggehen. Wenn aber mehr dahinter war?
Er hatte mir von seinem Wein zu trinken gegeben. Vielleicht war ja da etwas drinnen gewesen. Ich würde ihn beim nächsten Mal fragen.
Eigentlich wollte ich ja jetzt länger nicht zu ihm gehen. Den Blödsinn sacken lassen, warten bis ein bisschen Gras darüber gewachsen wäre und dann, irgendwann, bei seinem Geburtstag oder zu Weihnachten mit einer Flasche Wein vorbeikommen und so tun als ob nichts gewesen wäre. So wie wir es die letzten Jahre immer gemacht hatten.
Seit Elisa in die Einrichtung gekommen war, hatten wir versucht, einen Modus Operandi zu finden, der für alle irgendwie funktionierte. Bis heute wusste niemand, wie es zu dem Unfall gekommen war. Nur dass sie mit unserem Vater unterwegs gewesen war, das wussten wir. Er hatte gesagt, das Auto sei plötzlich aus der Einfahrt hervorgeschossen. Er hätte nichts mehr tun können. Und so stand es auch im Polizeibericht. Das hatte eigentlich niemand hinterfragt. Aus welchem Grund auch? Und wir hatten es auch geglaubt, meine Mutter und ich.
Dass sie Vater daraufhin endgültig verlassen würde, war irgendwie auf der Hand gelegen. Es hatte sich ja schon lange vorher angekündigt. Seit seinem ominösen Verschwinden aus unserer gemeinsamen Familie war die Stimmung zwischen den beiden kontinuierlich abgekühlt. Dieser Unfall war dann der Grund gewesen, den sie auch nach aussen hin vertreten konnte. Er hatte sie ja sonst nie schlecht behandelt. Bis auf die Zeit, die er nicht mit ihr verbracht hatte. Nicht mit uns verbracht hatte.
Diese Erzählung hatte sich über die Jahre in die Wahrnehmung unserer eigenen Vergangenheit eingebrannt. War irgendwie zur Wahrheit geworden.
Das Gespräch mit meinem Vater; die Erzählung über die Rehe; seine Involviertheit in der Rehvolution – all das stellte meine ganze Vergangenheit in ein neues Licht. Was, wenn der Imperretor auch am Unfall irgendwie beteiligt war?
Der Gedanke kam so unvermittelt wie der Ausgleich, den der FC in der 24. Minute schoss. «Yeahhhhhhh!» Edwin war aufgesprungen. Das Toben im Stadion riss mich aus meinen Gedanken. Mit kurzer Verzögerung sprang ich schliesslich auch auf, versuchte in den Jubel einzusteigen.
Ich musste ihn wiedersehen. Eigentlich so schnell wie möglich. Und ich musste vorhin mit Edwin darüber reden. Ich musste es irgendjemanden erzählen. Und er war der einzige, der wirklich zuhören würde.
Der Rehferee pfiff wieder an. Alles war offen. 1:1. Ein spannendes restliches Spiel stand uns bevor.